Eugen Biser: "Weisheit - Idee und Ethos" 

 Es geht ein Riss durch unsere moderne Wissensgesellschaft: Immer mehr Menschen verlieren den Glauben, dass die Krisen der Ökologie, des Wirtschafts- und Finanzsystems oder der gesellschaftlichen Entwicklung auf herkömmlichen, rationalen Wegen lösbar sind. Manche wenden sich deshalb vergessenen Formen des Wissens zu, suchen Orientierung etwa in östlichen Weisheitslehren. Dabei wird "Weisheit" zum Gegenbegriff des auf rationalen Wegen gewonnenen Wissens und schließlich zur Rationalität selbst. Weisheit bedeutet dann ein Schöpfen aus tieferen, aber um so lebendigeren Quellen, eine Einsicht, die den Menschen als ganzen umfängt, ihn tragen und ihn über den Sinn seines Lebens aufklären kann.

  Von dieser Entwicklung bleibt auch die Kirche nicht unberührt: Nicht nur, dass sie auf diese Herausforderung einer neuen Wissensform eine Antwort suchen suchen muss; sie wird in ihrer Theologie wie auch ihrer Hirtenaufgabe danach befragt, welche Richtung sie selbst einschlagen will, ob sie also Gott und sein Heilshandeln rationalistisch zur Sprache bringt (und dabei Gefahr läuft, als "strohen" empfunden zu werden) oder ob sie eine in der Geschichte des Christentums mächtige Tradition wieder zu Wort kommen lässt, die man als "sapientiale Theologie" (oft auch als pneumatische oder mystische Theologie) bezeichnet hat.

  Auf den ersten Blick scheint eine solche Entscheidung nicht schwer zu fallen: Alles – vor allem die unbefriedigte Suche der Menschen nach neuen Antworten auf ihre Letztfragen – scheint für ein sapientiales Denken zu sprechen. Doch sollen Kirche und Theologie «nach außen» und vor allem gegenüber den Wissenschaften kommunikationsfähig bleiben, sollen sie "kritisch" ihre eigenen Positionen und Quellen reflektieren sowie in gedanklicher wie begrifflicher Strenge artikulieren, dann müssen sie sich auch den Ansprüchen der Wissenschaftlichkeit stellen, zumal Rationalität zu jenen grundlegenden Befähigungen des Menschseins gehört, ohne die der Mensch sich nicht als ganzer in den Glauben einbringen, die Gefahr des Irrationalismus und damit der Willkürlichkeit vermeiden und sich als "Hörer des Wortes" vollziehen kann, das als Logos der Schöpfung immer schon auch das Rationale miteinbegreift. So stellt sich für uns die Aufgabe der Vermittlung beider Ansätze, die freilich vorrangig von der Weisheit selbst her zu leisten ist, sofern sie beansprucht, das Umfassendere zu sein und den Blick über alle Begrenzungen hinaus zu öffnen.

  Für den Religionsphilosophen Eugen Biser wurde diese Vermittlung zum großen Thema seines Denkens, das er mit der Entwicklung seiner "Neuen Theologie" aus den verschiedensten Blickwinkeln immer wieder behandelt und in einer Wiederentdeckung, ja Rehabilitation der Idee der Gotteskindschaft zu einem systematischen Abschluss gebracht hat. Der wirkliche Anfang dieses Denkweges allerdings lag und liegt noch immer im Dunkeln. Eine erste, darüber Aufschluss gebende Dissertationsschrift mit dem Titel "Der Kosmos der Tugenden" wurde abgelehnt und blieb infolgedessen bis auf den heutigen Tag unveröffentlicht. Peter Jentzmik, in dessen Verlag einige von Bisers neueren Publikationen erschienen sind und der mit Eugen Bisers Person ebenso vertraut ist wie mit seinem Denken, hat nun unter dem Titel "Weisheit. Idee und Ethos" in enger Absprache mit Biser einen Auszug dieser Promotionsschrift neu bearbeitet, herausgegeben und mit einer auch den Kontext dieses Exzerptes erhellenden Einleitung versehen.

  Dieses Buch verdient höchste Aufmerksamkeit nicht allein deshalb, weil es eine biographische Lücke schließt, sondern vor allem, weil es den Schlüssel zum Denken Bisers bereitstellt und es in seiner Methodik und in seiner Zielsetzung erschließt. Schon die erste Lektüre lässt erstaunen: Das ist kein Frühwerk, das erst noch ausreifen müsste; hier ist fast alles in nahezu explosiver Konzentration schon gegeben, was in Bisers späterem Schaffen seine Entfaltung finden wird. So ist dieses Buch nicht nur ein Anfang, sondern auch ein vorweggenommenes Ende, ein Leitfaden durch alle späteren Publikationen, der Konstruktionsplan eines monumentalen Gedankengebäudes, dessen Lektüre ebenso zur Orientierung wie zum Verstehen des von Biser Intendierten dient.

  Es ist nicht schöngeistige Spielerei, aber auch nicht nur die für Biser so charakteristische intellektuelle Weite, dass die Kunst als Zugang zum Weisheitsthema gewählt wird; darin tritt vielmehr ein schöpfungstheologisch-anthropologisches Axiom zutage, das alle Dimensionen der Wirklichkeit miteinander verbindet und sie damit zu Ausdrucksgestalten tieferer, theologischer Wahrheiten macht, die darin wiederentdeckt werden können, selbst wenn sie an ihrem genuinen Ort – im Leben und Denken der Kirche – verdunkelt sind.

  So ist es eine russische Kalenderikone, die die personifizierte Weisheit (Sophia) zur Schutzgestalt und damit auch zum bergenden, tragenden Grund der ebenfalls personifizierten göttlichen Tugenden (Glaube, Hoffnung und Liebe) macht. Wird hier die Weisheit als Wurzel und einigendes Band der Tugenden vorgestellt, die diesen ein – in Analogie zur Trinität – perichoretisches Aus- und Ineinander vermittelt, so akzentuiert eine Sophienikone der Novgoroder Schule die Weisheit als Öffnung auf die ungeschaffene Weisheit Gottes hin. Eine spätmittelalterliche Holzplastik aus dem nahe Straßburg gelegenen Eschau zeigt, dass auch der Westen dieses Bildthema kennt, fügt ihm aber, indem die Weisheit lesend dargestellt wird, das Motiv der inneren Sammlung hinzu, die die Grundhaltung des Gebetes und der Demut andeutet.

  Damit sind unter dem Symbol eines Kreuzes die Richtungen vorgezeichnet, in denen das Weisheitsthema zur Auslegung gebracht wird: horizontal in ihrer Beziehung zu den Tugenden, wobei diese horizontale Ebene – besonders durch die Liebe – immer schon Welt und Mitwelt mitumfasst; und schließlich vertikal als Spannungseinheit zwischen dem endlichen Geschöpf und dem unendlichen Schöpfer, zwischen der sapientia creata und der sapientia increata. Diese doppelte Erstreckung (horizontal, vertikal) verlangt – und hier ist ein weiteres Charakteristikum Biserscher Theologie zu notieren - ein Denken, das sich nicht in der statischen Beschreibung, in der Analyse von Einzelmomenten erschöpft. Schon der Hinweis auf die Perichorese der Tugenden und ihrer Gründung in der Weisheit setzt eine Erkenntnisbewegung in Gang, die ein ganzheitliches Erfassen, ein Durchschreiten von Wirklichkeitsräumen ermöglicht: Wie die Tugenden sich nur von der Weisheit her verstehen lassen, so legen sie diese auch aus, verankern sie in der konkreten menschlichen Existenz und ihrem Beziehungsgeflecht. So hält sich dieses Denken vermittelnd in der Schwebe zwischen den vermeintlichen Gegensätzen, versteht das Einzelne vom Ganzen, das Vor-läufige vom Ende her und überwindet damit die wesentliche Perspektivität und Fragmentarität menschlichen Erkennens in der Offenheit auf die Weisheit Gottes.

  Am sinnenfälligsten wird dies, wo die verschiedenen Weisen menschlichen Erkennens in eine einzige Denkbewegung integriert werden und diese über sich selbst, über alles Menschen-Mögliche hinausweist, um das Wort Gottes in sich hereinzulassen. Verbunden ist damit eine "kritische", d.h. scheidende und auf das Angemessene, Adäquate bescheidende Überwindung des neuzeitlichen Erkenntnisideals, das Subjekt und Objekt radikal trennt, das Objekt in die absolute Verfügung des Subjekts stellt und dieses in die All-Einsamkeit eines grenzenlosen Individualismus treibt, der, wie Biser im Anschluss an die romantische Theologie hervorhebt, am Ende Gott im Nihilismus verliert, weil dieser nur mehr ein Gedanke, aber keine lebendige Wirklichkeit mehr ist.

  Ratio und Wissenschaftlichkeit erfahren also kein generelles Verdikt, doch wird ihr alleiniger Herrschaftsanspruch als Unterbietung menschlicher Erkennensmöglichkeiten verstanden. Diese werden erst ausgeschöpft, wenn sich der Mensch als ein unbegrenzt kommunikatives Wesen begreift, eingebettet in das Ganze einer ihn ansprechenden Wirklichkeit.

Emmanuel Lévinas hat das Wort vom Einfallen Gottes in das Denken geprägt; verortet sich der Mensch in Bisers Sinne innerhalb des Wirklichkeitsganzen (und nicht mehr ihm gegenüber), ist er somit zum Weltweisen geworden, dann erfüllt er eine wesentliche Voraussetzung, dass Gott in den Horizont seines Denkens einfallen kann. Bisers Weisheitsschrift arbeitet dieses Sichaufhalten im Weltganzen, das Sichöffnen als Bedingung einer solchen Gottesbegegnung explizit heraus und erkennt bereits hier in der Form der Offenheit und Hingabe an die Realität eine Vorverwirklichung der Demut, die die geschöpfliche Grundhaltung in der Gottesbegegnung sein wird. So sehen wir hier schon weltliches und geistliches Leben, Vernunft und Glaube wurzelhaft miteinander verklammert, um die eine große Bewegung des Aufstieges, der Rückkehr zu Gott zu gewährleisten. Dass dies nicht im gnostischen Sinne als menschliche Leistung erzwingbar ist, wird deutlich gesagt und durch die absolute Differenz von sophia creata und sophia increata (ontologisch zwischen esse und ipsum esse) untermauert.

  Genau an dieser Stelle setzt Biser neu an, wendet er sich von der Religionsphilosophie der Theologie zu, indem er zwei weitere große und prägende Themen seines Schaffens ins Spiel bringt: Christus und die Kirche. Dieser Perspektivenwechsel ist berechtigt und notwendig, weil die ungeschaffene Weisheit kein bloßer Grenzbegriff, keine transzendentale Idee vernünftiger, verstehender menschlicher Existenz ist. In Christus wurde die ungeschaffene Weisheit Mensch; in der Kirche findet diese Menschwerdung ihre Fortsetzung, indem sie sich zum Existenzraum weitet, der allen Menschen die Wahrheit Christi vermittelt. So ist von Gott her der unendliche Graben zwischen ihm und seiner Schöpfung überwunden, indem Gott der menschlichen Weisheit die Teilhabe, die Kommunikation mit seiner eigenen, göttlichen Weisheit einräumt. Weisheit ist also kein Besitz, sondern Frucht einer personalen Beziehung, die getragen ist von der Selbstmitteilung Gottes und der Bereitschaft des Menschen, sich demütig – also gerade auch im Bewusstsein seiner eigenen Begrenztheit, seiner "ignorantia" - dieser Wahrheit hinzugeben und sie im Gebet dankend zu empfangen.

  Damit ist Biser in das mystische Herz der Kirche wie auch der Theologie vorgestoßen. Darin entdeckt er den Begriff der Gotteskindschaft neu, die, weit davon entfernt, Unmündigkeit zu meinen, ein Verstehen aus einem Nahverhältnis, aus der Intimität einer neuen Gottesbeziehung impliziert. Der Text stößt hier eine weittragende Diskussion an: Gerade in dieser Beziehung erreicht die menschliche Person ihre letzte Tiefe, strömt eine Fülle des Leben in sie ein, die sie mit Welt und Mitwelt endlich versöhnt. Auch Bisers in späteren Jahren entwickelter therapeutischer Ansatz, die Suche nach dem, was die Ängste des Menschen überwinden kann, klingt hier bereits an: Verbunden in und durch die Kirche ist der Mensch nicht mehr des Menschen Wolf, nicht mehr dessen Hölle, wie Sartre noch geglaubt hat; und weder die Welt noch Gott selbst, der aus der spekulativen Ferne in eine erfahrbare Nähe gerückt ist, haben etwas Bedrohliches.

  Eine solche Mystik hat nichts Versponnenes, Exaltiertes an sich. Wer Biser darin folgt und ihre Kategorien entfaltet, stößt immer wieder auf urmenschliche Begriffe, die jetzt freilich eine Steigerung ins Absolute erfahren, wie z.B. auch die Liebe, die im rein Menschlichen nur in ihrem Verlangen absolut, unendlich ist, darin aber doch immer wieder zum Scheitern verdammt ist.

  Es kennzeichnet Bisers Denken, dass es, sobald es an das Letzte und Äußerste gelangt, seine Anfänge wieder einholt: Wenn der Mensch sich in der Hingabe an Gott verliert, findet er sich; wenn er in dieses Nahverhältnis zu Gott eintritt, gewinnt er eine neue Stellung in der Welt; wenn er in der Kirche mit den anderen integriert wird in die "übergreifende Einheit einer Gesamtperson", dann verwirklicht er voll sein Selbst; und erst wenn die Stufe der Weisheit erreicht ist, werden sowohl unsere Alltagserkenntnis wie auch unser wissenschaftliches Streben in der "docta ignorantia" hellsichtig. Deshalb überrascht es auch nicht, dass gerade in dieser mystischen Beziehung, die in ihrem Wesen «an-erkennende», betende Kontemplation ist, die Quelle für ein liebendes Engagement liegt. So ist die Weisheit nicht nur Gabe, sondern auch Aufgabe; und sie ist gerufen, sich in den Tugenden zu realisieren.

  Im Einen und Ganzen der Wirklichkeit, auf das der Mensch stufenweise bis hin zur Gotteskindschaft sich öffnen, sich ausrichten soll, verschwimmen also die Realitäten nicht; was fällt, sind die Trennungen, nicht die Unterscheidungen! Dies gilt natürlich auch für jene Kluft, die unendlich tiefer ist als die zwischen Subjekt und Objekt oder zwischen Ich und Du: die Kluft zwischen Gott und Geschöpf. Auch sie wird nicht eingeebnet, sondern in der Gottesnähe lebbar; mehr noch, sie rückt den Menschen, wenn sie in der Gottesweisheit umfasst wird, in eine Distanz zu allem geschaffenen Sein, die dessen "Sagbarwerden" überhaupt erst ermöglicht und damit ein objektives erkennendes und gestaltendes Weltverhältnis begründet. War im Fall der Tugenden die innertrinitarische Perichorese das in Analogie maßgebliche Urbild, so ist es hier das christologische Modell des Abstiegs und des Aufstiegs des göttlichen Logos.

  So hat Bisers Schrift über die Weisheit zentrale theologische Motive auf ihrer Seite, wie sie auch durch brillante Exegesen biblischer Texte besticht, die sonst oft unverstanden verhallen. Diese Interpretationen und das Schöpfen aus dem Vollen der philosophischen, theologischen und mystischen Überlieferung runden dieses Buch selbst zu einer Ganzheit, die allerdings nie zum starren System wird, sondern in all ihren Teilen die geistige Lebendigkeit und Leidenschaftlichkeit des Verfassers atmet, der den Leser zum größten und beglückendsten Abenteuer, das ein menschliches Leben bieten kann, ermutigen will.

von Richard Niedermeier, am 28.09.2011

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