Eugen Biser: Der Mensch im Horizont Gottes - Zum 90. Geburtstag von Eugen Biser

Hrsg. Von Peter Jentzmik

Die herrschende Sicht vom Menschen strebt nach einer optimalen Ausschöpfung aller menschlichen Potenziale. Es gilt, die Leistung zu maximieren, fit zu werden für eine globalisierte Wirtschaft, sich an die mediengesteuerte Gesellschaft mit ihrem Kult der ewigen Jugend und der Gesundheit anzupassen. Aber dieser neue Mensch wirft einen dunklen Schatten. Und mit den ins Grenzenlose gewachsenen Hoffnungen auf die Zukunft verbindet sich die tiefste Verzweiflung: Geht der Menschheit, die dabei ist, sich neu zu erfinden, das Humanum verloren? Werden wir künftig noch frei über uns verfügen können oder werden wir die Geister, die wir riefen, nicht mehr los? Stecken wir nicht in einer Vielzahl nahezu auswegloser Krisen, die das Szenario des Untergangs der Menschheit realistisch erscheinen lassen? So legt sich eine alles lähmende Schwere gerade auf die westlichen Gesellschaften, und Ängste machen sich breit, die die Gefahr von Fehl- und Überreaktionen – z.B. in einem Kampf der Kulturen – hervorrufen.

Hier genügt es nicht mehr, nur warnend den Finger zu heben. Die Menschheit bedarf eines neuen Impulses, der sie aus ihren Verhängnissen herausreißt und sie zu einem Neuanfang bringt. Zu denen, die in den tiefen Dimensionen menschlicher Geschichte nach einem solchen Impuls gesucht haben, gehört der Münchener Religionsphilosoph Eugen Biser. In seinem Buch „Der Mensch im Horizont Gottes“ fasst der inzwischen Neunzigjährige das Resultat dieser Suche zusammen und gibt damit eine Art Vermächtnis seiner nicht allein für die Kirche so bedeutsamen Lebensleistung.

Dabei ist schon der Titel ein Hoffnungszeichen: Der Mensch steht nicht einsam in der unendlichen Weite des Alls oder in seiner Geschichte; er ist vielmehr umfangen von einem liebenden Gott, so dass man vom Menschen nicht sprechen kann, ohne auch von Gott zu sprechen. Umgekehrt überwindet Biser auch die gerade in der Neuzeit so unheilvoll gewachsene Isolation der Gottesrede, der Glaubensverkündigung, der Theologie.

Dieser Ansatz provoziert bei Biser ein Denken, das die Jugendkraft des Perspektivenwechsels nicht verloren hat. Biser denkt auf Gott zu und von Gott her; er greift Erfahrungen – die eigene Lebenserfahrung ebenso wie Grunderfahrungen der Menschheit – auf, um sie unter das Licht des göttlichen Wortes zu bringen, das über den Zeithorizont all solcher Erfahrungen immer schon hinausgeht, wenn es aus dem Herzen Gottes heraus spricht; er beschreibt den Menschen, wie er ist – als Gefangenen seiner Ängste, die ihn immer neu zu Untaten der Selbstsucht treiben -, entwirft aber auch ein Bild vom Menschen, wie er, von Gott gewollt, sein kann, ohne sich dabei als Mensch zu verlieren.

Diese Jugendlichkeit und Frische von Bisers Denken verdankt sich aber nicht nur einer privilegierten psychischen und geistigen Konstitution. Sie gründet im Gegenstand seines Denkens selbst. Biser denkt sowohl den Menschen als auch die göttliche Offenbarung geschichtlich: Der Mensch ist für ihn nicht prmär ein klar definierbares Wesen, das darüber hinaus noch eine Geschichte „hat“; sondern von Grund auf eine Suche nach sich selbst, ein Wesen, das die Frage „Wer bin ich eigentlich?“ nicht los wird. Diese Frage zwingt den Menschen, die Augen vor seiner Geschichte zu öffnen, um sich in ihr selbst zu erblicken. Biser wühlt allerdings nie in den Abgründen der Geschichte herum; der Krieg, den er am eigenen Leib erfahren hat, die Gewaltherrschaft als Paradigma menschlichen Versagens, menschlicher Selbstverfehlung sind für ihn viel zu abgründig, um über den bloßen Verweis hinaus in die Sprache gehoben zu werden. Viel wichtiger ist für ihn die Frage, warum der Mensch das Böse wählt. Es ist die Angst, die blind macht für den anderen, aber auch für sich selbst. Das Buch entfaltet meisterhaft die Aspekte und Dimensionen dieser Angst, zeigt, dass Angst ein unser ganzes Handeln bestimmendes Existenzial ist, gleich ob wir mutigere oder furchtsamere Naturen sind. Die Angst ist nichts, was sich allein auf der psychologischen Ebene abspielt; sie hat metaphysische Wurzeln: als Angst um die eigene Existenz, als Seinsangst. Wo es aber um die ganze Existenz geht, kommt Gott ins Spiel: Die Angst zielt letztlich auf Gott als das „mysterium tremendum“, vor dessen Heiligkeit der sündige Mensch nur vergehen kann.

Mit dieser Analyse der Angst als menschlicher Grundbefindlichkeit deckt Biser zugleich ein defizientes Verständnis von Geschichtlichkeit in der Moderne auf, das die Sicht auf die wahre Geschichtlichkeit des Menschen vernebelt. Denn die Angst hält den Menschen in sich selbst gefangen und zwingt dabei immer ähnliche Situationen, eine Art ewige Wiederkehr des Gleichen herbei; man denke nur an die Kreisläufe der Gewalt im Leben der Individuen wie auch der Völker. Und gerade weil der Mensch bei der Frage „Wer bin ich?“ nicht in den geschichtlichen Spiegel zu schauen vermag, ohne an seiner Freiheit und Humanität zu zweifeln, ist er genötigt, die Wer-Frage in eine abstrakte, vermeintlich zeitüberhobene Was-Frage („Was ist der Mensch?“) umzuformulieren oder aber völlig orientierungslos sich vom Thema „Mensch“ ganz abzuwenden. Bisers Idee von Geschichte indes begnügt sich nicht mit dem bloß Wandelbaren; sie gründet auf Verantwortbarkeit und damit auch auf Freiheit. Deshalb verlangt sie, dass die Geschichtlichkeit des Menschen zu sich selbst kommt, zu sich selbst aus den bloßen Kreis-„läufen“ ebenso wie aus allen richtungslosen Strebungen befreit wird.

Der Ausgangspunkt einer solchen Befreiung kann jedoch nicht aus dem Menschen selbst kommen, sondern nur von dort, worauf unsere elementarste Angst gerichtet ist: also von Gott her. Damit bekommt die Rede von der Geschichte eine zweite, sich mit der ersten zur Einheit verbindende und diese auch tragende und über ihre faktischen hinausführende Dimension: Auch Gott geht in diese Geschichte ein, und zwar unüberbietbar und ohne irgendeinen Vorbehalt, indem er in der Person Jesu selbst Mensch wird. Gott ist in seiner Transzendenz und Geschichtsüberlegenheit den geschichtlichen Verhängnissen ja nicht unterworfen und kann so allein zum Befreier und Vollender der Geschichte werden.

Auch dieses Eintreten Gottes in die Geschichte sieht Biser deutlicher und entschiedener. Es geht nicht nur um eine abstrakte Erlösungstat, die Jesus auf der Bühne der Weltgeschichte vollzogen habe; sondern um eine ganz lebendige, bis in die Tiefe eines jeden einzelnen Menschen reichende, durch Auferstehung und Erhöhung ermöglichte Beziehung, in der der Panzer aller Ängste aufgebrochen werden kann. Diese Beziehung greift über die Zeitgenossen Jesu, über das eingegrenzte „Damals“ hinaus, weil das Mensch- und Geschichtesein des auferstandenen und erhöhten Herrn in allen Zeiten Gültigkeit hat. Hier hat Geschichte nicht mehr nur den Sinn von „Geschehen“ als dasjenige, was einmal war; sondern sie meint das, was - einmal geschehen – sich in das Fortlaufende einstiftet und so bleibend bedeutend ist.

Jesus, Therapeut, Freund, Helfer, innerer Lehrer – das sind Stichworte, die im Lebenswerk Bisers immer wieder begegnen und eine ganz intime Beziehung vorstellen, in der der Mensch sich von Gott als bedingungslos geliebt erfährt. So überwindet Biser das mitunter auch ideologisierte Spannungsverhältnis zwischen einer „Christologie von oben“ und einer „Christologie von unten“ durch eine „Christologie von innen“. Eine solche Christologie hat die Evidenz einer unmittelbaren Erfahrung bei sich, sofern, wie Biser betont, eben nur die Liebe glaubhaft ist.

In immer neuen Ansätzen legen die einzelnen Kapitel dieses Buches diese Kernthese von der geistgewirkten Einwohnung Christi im Glaubenden aus: Sie begründet ein Kindschaftsverhältnis des Glaubenden gegenüber Gott, in dem es keinen Zweifel mehr an Gottes unendlicher Güte und Liebe gibt und darum erst wahre und vollkommene Freiheit möglich ist; sie fordert den Menschen heraus, über eine bloße Gesetzesmoral hinauszugelangen und - Gottes Liebe als größte Herausforderung begreifend – ihm in Liebe zu antworten.

Ein Jesus, der als „mystisches Tiefen-Ich“ im Glaubenden gegenwärtig ist, verändert aber nicht nur das Leben des Einzelnen, indem er ihn aus seiner mörderischen Todesangst befreit: er eröffnet auch eine neue Zukunft für die Kirche und die Menschheit als ganze. Hier sehen wir erst, was das Wort „Modalanthropologie“ in seinem Vollsinn besagt: nicht nur, dass es zum faktischen Zustand des Menschen Alternativen gibt, sondern dass in der intimen Einheit mit Jesus noch gänzlich unbekannte Potentiale des Menschseins gehoben werden können, die grundlegend in die zwischenmenschlichen Verhältnisse und in das Leben der Völker eingreifen. Das Tor ist weit aufgestoßen zu einer Entwicklung der Menschheit, die aber anders als alle Versuche der Selbstmanipulation und der Ausbeutung menschlicher Vermögen dem Menschen zutiefst entspricht. So niederschmetternd Bisers Zeitanalysen auf den ersten Blick auch sein mögen, wenn er etwa vom „ozeanischen Atheismus“, von der postmodernen Kultur der Beliebigkeit, von den Zuständen der Angst und der Orientierungslosigkeit spricht – dem Optimismus Bisers und seiner Hoffnung tut dies keinen Abbruch. Das Christentum hat in seinen Augen seine Zukunft nicht hinter, sondern im Gegenteil noch vor sich.

Die Hoffnung der ganzen Menschenheit aber entscheidet sich an einem Thema, am Frieden. Der Friede, so Biser, muss bedingungslos und vorbehaltlos gedacht und angestrebt werden. Aber wo anders könnte er dann seinen Ort haben als dort, wo der Mensch, obgleich ein bedingtes und endliches Wesen, selbst die Erfahrung von Bedingungslosigkeit und Vorbehaltlosigkeit machen kann? Und dies ist allein die in Christus sichtbar und Gestalt gewordene Liebe Gottes. Nur das Verstehen und die Weitergabe dieser Liebe können den Frieden, den echten Frieden, der mehr ist als nur momentane Abwesenheit von Krieg, garantieren.

Darum haben die Christen, die durch Christus zu den Hütern der Wahrheit von der unbedingten Liebe Gottes geworden sind, die höchste Verantwortung für den Frieden in der Welt; eine Verantwortung, der sie allerdings, wie Biser immer wieder und mit kritischem Blick auf die Kirchengeschichte betont, nur durch Friedfertigkeit nach innen, durch Verzicht auf Gewalt und Repression gerade aich innerhalb der Kirche gerecht werden können.

Der Befreiungsweg von der Sklaverei der Angst zur Freiheit der Gotteskindschaft nimmt seinen Ausgangspunkt nicht an Satzwahrheiten des Glaubens („christliche Wahrheit“), sondern am unausschöpflichen Geheimnis der Person Christi, an der „Wahrheit Christi“. Dieser Wahrheit Christi nähern wir uns aber, wie Biser in einer Reflexion über das neutestamentliche Sprachgeschehen bemerkt, weder auf dem Weg syllogistischer Entfaltungen noch mit der historisch-kritischen Methode („Methode des toten Buchstabens“), wie sie heute die Exegese dominiert; es ist vielmehr der Weg des lebendigen Geistes, die nach innen gerichtete Begegnung mit der Person Jesu, die zu einer neuen Form der Hermeneutik führt. Und diese Hermeneutik entnimmt den Evangelien mehr als nur Worte; sie findet darin auch die Gestalt – Biser spricht für heutige Ohren ganz ungewohnt sogar davon, im Antlitz und in der Körpersprache Jesu zu lesen – und die fast sinnenhaft greifbare Person Jesu. Möglich ist dies durch die Innenbegegnung mit dem Auferstandenen, der in der Tiefe des menschlichen Herzens seinen Platz genommen hat.

Und so wenig wie hier das Innen und Außen in der Christusbegegnung, der Christus im Wort der Überlieferung und der Christus in der Tiefenerfahrung des Menschen getrennt sind, so wenig ist Bisers „Neue Theologie“ gespalten in eine spekulativ-systematische, eine praktische und eine mystische Theologie. Hier sind die theologischen Disziplinen, hier sind Denken und Spiritualität wieder zusammengeführt zu einer überzeugenden, den Menschen in seinem Glaubensakt tragenden und bestärkenden Einheit.

Von Lic.theol. Richard Niedermeier, am 23.4.2008


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