Emil Herrmann: "Wege zu denken"

Das Werk des Autors (1886-1966) mit dem Untertitel "Versuch, auf philosophische Weltanschauungen sich einen Reim zu machen" reimt auf 246 Seiten die gesamte Geistesgeschichte der Welt. Weil das klug und geistvoll geschieht, legt der Leser das anfängliche Zögern bald ab und gibt sich mit Vergnügen der Lektüre hin. Ein bißchen Kenntnis muß er freilich mitbringen. Je mehr er hat, desto vergnüglicher liest er. Kein Name fehlt. Das Namensverzeichnis S.250-255 reicht von Alfred Adler, Agrippa und Albertus Magnus bis zu Voltaire, August Weismann und Wilhelm Wund. 

(Prof. Dr. E. W. Funcke) 


Leseprobe (S. 68/69)

Wenn Neigung, Trieb, geschwächet sind 
Und Freundesliebe sich nicht find?
Was sind die Freiheit, Ehre, Tugend
Auf Zung' und Lippen unsrer Jugend,
Wenn Feigheit, Üppigkeit und Schande
Verbreitet, wie noch nie im Lande?
Was nützt das Wirken der Maschine,
Wenn sie allein dem Mammon diene,
Nur zu des Menschen Leid und Schrecken
Und nicht den guten, edlen Zwecken?
Wohin soll noch das Leben führen,
Wenn Macht und Mittel triumphieren,
Um fremdes Volk zu unterjochen?
In Ketten schlägt uns einstens nochen
Und wird uns daran elend ziehen
Der Rachegeist der „Erinnyen“.
Nur jetzt, ihr meine deutschen Brüder,
Nur jetzt ruf' ich euch mahnend wieder:
Laßt ab von dieser „Krebskultur“,
Die einzig führt zum Chaos nur!
Der Sturmwind braust mit Urgewalt
Durch unsrer Seele Urgestalt.
Sie hat die Sprache uns bewahrt
Aus grauer Vorzeit langer Fahrt,
Und ist noch nicht zu Tod erstarrt;
Sie lebt noch frisch und kämpft noch hart.
Es bricht jetzt durch der Jugend Drang
Mit schöner Dichtung und Gesang
Die Stimme jener „Ursprung-Seele“,
Die mit dem Leben sich vermähle,
Und, wenn sie ihre Urkraft findet,
Den Barbarismus überwindet.

 

Wie hehr und groß ist diese Kraft,
Die erst das 'Rätsel' Leben schafft
In tausendfältiger Natur,
In Harmonie und Schönheit nur,
In Arten, Formen und Gestalten,
Und unterschieden nach Gehalten,
In vielem sie sogar sich gleichen
Und bis zur höchsten Schöpfung reichen;
Gleich einer weisen Stufenleiter
Vom Einfachen zum Höhern weiter,
Vom Stein zum blitzenden Kristall,
Zur nächsten Stufe, dem Metall,
Dann höher in das Pflanzenreich,
Mit tausend Sprossen alsogleich,
Bis sie dann nicht mehr erdgebunden
Die Freiheit haben erst gefunden
In weiten Meeren, Bergen, Klüften,
Zum Himmel strebend in den Lüften;
Und schließlich noch der Mensch allein
Als höchste Stufe in dem Sein.
Und alles dies höchst ausgeglichen,
In weiser Ordnung, wunderlichen,
Geheime Kraft, Instinkt, Verstand,
Naturgesetz als einig' Hand.

 

 


 

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