Nur
der Gottesglaube, den die gemeinsame religiöse Tradition Europas bezeugt, vermag das Fundament
Europas zu sichern. Indirekt gilt das auch von den "Pfeilern" dieses
gemeinsamen Europäischen Hauses. Denn die Prinzipien Liberalität,
Solidarität und Toleranz, die eine demokratische Lebensordnung gewährleisten,
entstammen nicht den Errungenschaften der Aufklärung, wie vielfach angenommen
wird, sondern der Botschaft des Evangeliums, das als die Religion der Freiheit,
der Nächstenliebe und der Toleranz seinen Siegeszug durch die durch Sklaverei,
Haß und Unduldsamkeit geprägte Antike angetreten hat.
Schon diese Besinnung müßte die Bewohner des Europäischen Hauses
ihrer Lethargie und Vergessenheit entreißen und zu dem von der Vergünstigung
geforderten Engagement bewegen. Doch das Christentum hält für sie
eine noch ungleich größere Motivation bereit. Denn es ist von seiner
Wurzel her die Religion des von Jesus entdeckten, verkündigten, erlittenen
und durch seinen Kreuzestod besiegelten Gottes der bedingungslosen Liebe und
als solches die größte Liebeserklärung Gottes an die Welt.
Um sie glaubhaft zu machen, müssen allerdings eine Reihe von Altlasten
wie die Vorstellung von einem Richtergott, von einer von Jesus erbrachten Sühneleistung,
von einer Ethik der Direktiven und einer Pädagogik der Drohungen abgeworfen
werden.
Und im Gegenzug dazu müßte mit Kants Essay über "Das Ende
aller Dinge" (1794) daran erinnert werden, daß das Christentum "außer
der größten Achtung, welche die Heiligkeit seines Gesetzes unwiderstehlich
einflößt, noch etwas Liebenswürdiges in sich" hat, das
seine Anhänger dazu bringt, das, was sie tun sollen, auch gerne zu tun.
Wenn das auch von den Bewohnern des Europäischen Hauses gelten soll, muß ihnen
Europa als Ideal, wie es in dem Essay von Novalis "Die Christenheit oder
Europa" geschah, vor Augen gestellt werden; denn: "Vor jedem steht
ein Bild des, was werden soll; solang er das nicht ist, ist nicht sein Friede
voll" (Rückert). Idealen ist es gegeben, den Menschen der Resignation
zu entreißen, die in ihm brachliegenden Energien freizusetzen und ihn
zum Einsatz für die im Ideal aufleuchtende Sache zu bewegen. Das müßte
vor allem dort geschehen, wo die Entscheidungen über die Zukunft fallen:
in den Gremien der zur Deutung der Zeitzeichen verpflichteten Theologie und
Philosophie, aber auch in den Schaltstellen der Politik und insbesondere in
den für die Ausbildung der Jugendlichen zuständigen - und verantwortlichen
- Schulen. Dort müßte ein neues Lernbewußtsein Einzug halten,
das seinen Schwerpunkt darin hat, daß die dort Geschulten nicht nur im
Interesse ihrer Existenzsicherung lernen, sondern vor allem auch zu dem Ziel,
als künftige Erwachsene einen Beitrag zu dem zu festigenden Europäischen
Haus zu leisten. Denn dieses Haus braucht Arbeiter, denen es nicht nur um die
Sicherung des Arbeitsplatzes, sondern um den wirtschaftlichen Lebensraum geht,
in dem ihre Arbeit eine Zukunft hat; es braucht Wissenschaftler, die sein geistiges
Potential fortentwickeln, Denker, die sich als Vordenker der Freiheit und des
Friedens erweisen, Künstler und Komponisten, die auf die Verständigung
der aufeinandertreffenden Kulturen hinarbeiten, und insbesondere eine Jugend,
die dieses Haus als ihre größere Heimat begreift. Sie alle aber
müßten das entstehende Europa als das Ideal begreifen, für
das sich zu leben und zu wirken lohnt.
Eugen Biser
Rezension
von Richard Niedermeier (24.5.2005)
Europa scheint
außer Atem geraten: Wie gehetzt
läuft es hinter den weltpolitischen Ereignissen her, ringt um
Identität in einer globalisierten Welt, die nur mehr Märkte
kennt, erstickt in einer Flut von Verordnungen, die bei den Bürgern
eine nachhaltige Europa-Müdigkeit erzeugt. Europa ist ein Geschäft,
bei dem man gewinnen oder auch verlieren kann – je nachdem, wie
man sich zurechtfindet. Auch für viele Christen ist Europa zu
einer rein politischen Sache geworden; man führt bestenfalls noch
Rückzugsgefechte, die den eigenen Bestand in der drohenden „Multi-Kulti“-Beliebigkeit
sichern oder die schrecklichen Geister vergangener Gewaltherrschaft
auf Distanz halten sollen. Europa ist heute für die meisten Realität,
aber keine Idee mehr!
Und doch gibt es sie noch, die europäischen Idealisten, die nicht vergessen,
ja am eigenen Leibe erlebt haben, aus welchen Kämpfen dieses neue Europa
hervorgegangen ist. Zu ihnen gehört der Münchener Religionsphilosoph
Eugen Biser, der sich nicht scheut, gegen die Melange aus Pragmatismus und Resignation
anzusprechen, auch wenn es gerade in unserem Land opportun ist, zu jammern und
jedes Ideal in zersetzender Kritik zur Auflösung zu bringen.
Und so – selbst begeistert und in flammender Rede auch andere begeisternd – trat
Eugen Biser im Januar dieses Jahres in Hadamar bei Limburg vor eine überwiegend
aus Pädagogen bestehende Zuhörerschaft und forderte sie auf, gerade
an den Schulen „Europa als Arbeits- und Werteziel neu zu entdecken“.
Die Jugend, so Biser mit Recht, brauche Leitbilder, Ziele und Ideale, und ein
solches sei Europa, da es die Chance biete, über die bloße Existenzsicherung
hinaus für die eigene Zukunft zu wirken.
Aber Biser ist überzeugter Pro-Europäer nicht nur aus pädagogischen
Nützlichkeitserwägungen oder aus einem anderen Kalkül heraus.
Zwar sieht auch er Europa als Garanten einer dauerhaften Friedensordnung, die
Voraussetzung für wirtschaftliche Prosperität und eine positive Entwicklung
der europäischen Gesellschaften ist; aber Friede hat für ihn eine noch
ganz andere, viel tiefere Bedeutung als nur „nicht Krieg“ oder „Verständigung
und Kooperation unter den Völkern“. Sein Friedensbegriff ist theologisch
grundgelegt, und darum ist auch seine Europa-Idee mehr als nur ein politisches,
gesellschaftliches und ökonomisches Ideal.
Europa ist für Eugen Biser primär ein Geschenk Gottes an die Völker
dieses Kontinents (wobei es auch die Funktion eines Sauerteiges für die
Welt hat); und ebenso ist auch der Friede zwar eine von den Menschen zu realisierende
Aufgabe (weshalb er auch verspielt werden kann), dabei aber doch auch gnadenhafte
Gabe Gottes, die menschliches Friedenswirken überhaupt erst ermöglicht.
Dieses Verhältnis von göttlicher Vor-gabe und menschlicher Verwirklichung
ist bei Biser – konsequent zur Christozentrik seines Denkens – ganz
konkret, d.h. dem Inkarnationsgedanken entsprechend gefaßt: Die Geschichte
ist deshalb nicht bloß eine Bühne oder ein zeitlicher Rahmen, in dem
der Mensch seinen Glauben bewähren muß; sie schenkt im vielmehr schöpferische
Impulse, die er aufgreifen und auf Gott hin ausrichten soll. Darum ist Bisers
Theologie alles andere als nur jenseitsorientiert. Sie steht mit beiden Beinen
auf der Erde, fragt nach dem Wehen des Geistes in der Geschichte, sucht noch
unter der Asche die verborgene Glut jenes Feuers, das mit Christus auf die Erde
gekommen ist. Es ist eine optimistische Theologie in dem Sinne, daß sie
vom Christen kein Zurückdrehen des Geschichtsrades, keinen Sprung in die
Vergangenheit verlangt, sondern auf Fortentwicklung, auf Heilung der Menschheitswunden
aus dem Ursprung heraus setzt. Der Mensch muß sich nicht in irgendeinem
Punkt der Vergangenheit vergraben, sondern kann die Gegenwart auf die Zukunft
hin leben, weil der in Christus gesetzte neue Anfang so mächtig ist, daß er über
alle Zeiten hinweg trägt. Und deshalb kann, ja muß Eugen Biser, wenn
er von der Zukunftsaufgabe „Europa“ spricht, gerade auch von Christus
sprechen.
Was aber ist das Neue, das unverzichtbar Eigene des Christentums? Auch in diesem
Vortrag weist Biser auf die Überwindung des „ambivalenten Gottesbildes“ (Gott
als der gütige und zugleich als der zornige strafende Gott) hin. Positiv
gewendet: Gott ist bedingungslose Liebe.
Nun konzentriert sich dieser Vortrag auf die subjektive Seite dieser Gottesoffenbarung;
er thematisiert – im Anschluß an Karl Rahner – die Erfahrung
dieser Liebe in der Begegnung der Jünger mit Christus. Christus, so Biser,
habe Gott nicht allein durch sein Wort und durch seine Wunder geoffenbart, sondern
durch eine Art „Gottessuggestion“, mit anderen Worten: Wie Gott ist,
erfuhren sie gerade auch im Umgang mit Jesus; in ihm, in seiner ganzen Person
wurde Gott selbst gegenwärtig. In dieser Art der Gotteserfahrung vollzieht
sich eine „Inversion“, die auch den Weltauftrag des Christen und
damit letztlich auch den Europa-Gedanken bestimmt: Gott und Welt sind nicht mehr
zwei grundverschiedene Bereiche, die – als immer noch voneinander verschiedene – durch
die Person Christi verklammert wären; vielmehr ist Gott so in die Welt hineingeholt,
daß es möglich geworden ist, die Welt von Gott her zu verstehen und
zu gestalten. Und umgekehrt – das ist nur die andere Seite der Medaille
- nimmt uns Gott in seine Wahrheit und Wirklichkeit hinein.
Die Tragweite dieses Ansatzes ist schwerlich in einem einzigen Zugriff auszuschöpfen,
und auch Eugen Biser selbst hat in diesem Vortrag noch keineswegs alle Linien
weiterverfolgt, die sich daraus ergeben, weshalb wir Richtungsweisendes dazu
von ihm wohl auch noch erwarten dürfen. Aber eines ist schon sichtbar geworden:
Es kündigt sich hier das Konzept einer christlichen Politik an, die nicht
mehr Gefahr läuft, bestimmte nur zeitbedingte Inhalte absolut zu setzen,
die Andersdenkende nicht ausgrenzt (und damit auch nicht Europa als Festung verbarrikadiert),
sondern der Gewaltlosigkeit verpflichtet ist und auf den Dialog setzt; eine Politik,
die den Menschen mit der gleichen Ehrfurcht behandelt, wie Gott ihm durch seine
Liebe an Würde hat zuteil werden lassen.
Damit ist zugleich ein christliches Europa angedacht, das andere nicht unter
ein ihnen fremdes Bekenntnis zwingt, das nicht eine verklärte Vergangenheit
als Norm zurückholt und dabei seine eigene Geschichte verleugnet. Sondern
ein Europa, in das die Christen innerhalb und außerhalb der Kirchen ihren
Friedensdienst einbringen und dessen Grundwerte (Liberalität, Solidarität
und Toleranz) auf ihre christlichen Wurzeln hin befragen, damit es von diesen
Wurzeln her gerade in seiner gegenwärtigen Depression neu belebt werden
kann.
So hat Eugen Biser in diesem Vortrag Europa auf den Weg einer geistigen Erneuerung
gewiesen. In dieser spielt das Religiöse, das Christentum eine zentrale
Rolle. Aber diese Rolle ist dabei doch eine dienende, eine, die um des Menschen
willen ist. Eugen Bisers Entwurf eines christlichen Europa steht deshalb in konsequenter
Gefolgschaft des Zweiten Vatikanischen Konzils, das die Kirche nicht mehr über
der Welt stehend und sie beherrschend gesehen hat, sondern ihr die Nachfolge
des dienenden Christus in der Welt aufgetragen hat. Und dazu fordert auch dieser
Vortrag auf: Ein erneuertes Christentum kann sich weder in völliger Anpassung
an die Welt entleeren noch darf es sich in eine fromme Weltjenseitigkeit zurückziehen.
Die Mitte zwischen beiden Extremen, die Klammer zwischen Welt- und Gottesbezogenheit
stellt für Biser die Friedensidee dar, die auf die Welt gerichtet ist, aber
ohne ihren Grund in Gott nicht sein kann. Europa aber ist die große Chance
seiner Christen: Aufgabe und Kontaktstelle zur christlichen Überlieferung
zugleich.
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